Der pauschale Vorwurf von „Versagen“ dient einem Klima des Misstrauens

24.08.2021

Die gute freiheitliche Ordnung gründet auf eigener Initiative und gegenseitigem Vertrauen

Mitmenschen, die sich verzweifelt an Flugzeugen festklammern. Die wütende Brutalität in Afghanistan erschüttert unsere Gemeinschaft, die Fehleinschätzungen des Westens, das Ringen um Leib und Leben. Die Eindrücke von großer und größter menschlicher Tragik reißen nicht ab. Inmitten des Leids geht es darum, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um zu retten, wo noch zu retten ist. Es geht um Hilfe und Perspektive für alle, die plötzlich vor dem Existenzverlust stehen: sei es durch „externe Schocks“, sei es durch das soziale oder einzelne Versäumnis. Selbst das Zwei-Grad-Klimaziel ist in Gefahr, alarmiert der Kreis des Weltklimarates. Der nachhaltigen Umrüstung menschlicher Versorgungssysteme fehlt Tempo, wie zielführend inzwischen Geschafftes auch ist.

Der Schutz von Leben, der Wiederaufbau und das Gewinnen von neuer Anfangskraft haben größtes Verdrängungsgewicht. Die konsequente Aufarbeitung von Ursachen und Fehlern duldet keinen Verzug. Eine sachliche, gerechte Bewertung der Sachverhalte darf dabei nicht von dem politischen Reflex getrübt werden. Die allzu schnelle Zuweisung von Schuld diskreditiert nicht nur politisch Andersdenkende, sondern sie führt zu Mutlosigkeit und bereitet den Boden für eine neue Unkultur des Misstrauens. Die oft kaum maskierte Bezichtigung gegeneinander, nicht Bestes angenommen und danach gehandelt zu haben, ist ehrenrührig.

Pauschale Vorwürfe treffen ungleichmäßig, frontal. Nachrichtenmagazine machen sich auf die „Spur des deutschen Versagens in Kabul“. In der Pandemie wird „das Versagen der Politik beim Impfen“ als das „größte Manko“ ausgemacht. In den vom Hochwasser ruinierten Lebenssituationen kämpfen die einen noch um das, was geborgen werden kann, da haben andere die „Chronologie des Versagens“ schon zur Hand.

„Sie sind ein riesengroßer Versager", schmettert ein Bürger beim Besuch unseres Ministerpräsidenten den örtlich Verantwortlichen entgegen. Armin Laschet war in Heimerzheim und Odendorf auf dem Weg, um von den Verwüstungen und der Betroffenheit im einzelnen Fall ein so genaues Bild zu gewinnen, wie das in den engen Terminkalendern zu machen ist. Es war beileibe nicht der einzige bedrückende Weg, der in unserem Bundesland zu gehen war, um die unterschiedlich entstandenen Notlagen aufzunehmen und Anteil zu nehmen an unermesslich harten persönlichen Schicksalen. Die Ausmaße in den sechs Städten und Gemeinden des linksrheinischen Rhein-Sieg-Kreises waren oft schon bei gegenüberliegenden Straßenseiten ganz verschieden. In Eschweiler war das Sankt Antonius-Hospital beschädigt, in Erftstadt das Marien-Hospital, in Bad Münstereifel hatten Schicksalsschläge ebenso einmalige Wucht wie in Kall, Schleiden oder Stollwerk.

Die gute freiheitliche Ordnung gründet auf eigener Initiative und gegenseitigem Vertrauen

In Swisttal-Ludendorf musste noch in der Nacht der Katastrophe das Rathaus geräumt werden. In dramatischen Stunden ist auf dem Gelände der Bundespolizei in Heimerzheim Funktionalität bestmöglich hergestellt worden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unseren Verwaltungen nur in begrenzter Anzahl zur Verfügung stehen, haben sich in Swisttal, in Rheinbach und in Meckenheim mit Herz eingesetzt, und ebenso in der Nachbarschaft. Vor allem ihnen ist zu verdanken, dass schnelle Hilfen der Solidargemeinschaft – für Essen und Kleidung, das Allernotwendigste – in der Regel ohne vermeidbaren Verzug ankamen. Das Kollegium der Bürgermeister hat zusammengehalten. In Swisttal hat sich Bürgermeisterin Petra Kalkbrenner in einem Auto der Gemeinde Alfter auf den Weg gemacht, weil eigene Dienstfahrzeuge nicht mehr zur Verfügung standen.

Kräfte der Abfallentsorgungsgesellschaften sind sogar nach Dienstschluss und an den Wochenenden zu den Brennpunkten gefahren. Landwirtinnen und Landwirte haben noch in der Katastrophennacht Straßen gesichert und mit schwerem Gerät da gerettet, wo ansonsten niemand mehr hinkam. Dabei standen das eigene Anwesen sowie die eigenen Felder und Wiesen nicht nur im Einzelfall unter Wasser. Die freiwillige Feuerwehr, viele jüngere Erwachsene, haben durchgearbeitet, die Hilfs- und Rettungsorganisationen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei, der Bundeswehr, von Straßen.NRW.

Außerhalb sind in privaten Haushalten Bügelarbeiten für die in den Hochwassergebieten Betroffenen übernommen worden. Jugendgruppen haben Pfandflaschen gesammelt und die Erlöse gespendet. Viele haben Schaufeln in die Hand genommen und sind in die ruinierten Ortschaften gefahren, auch an die Ahr – beispielsweise nach Altenahr, Mayschoß, Dernau.

Bei allem, was womöglich menschlich versäumt wurde und sich systematisch als ungenügend erwiesen hat: Menschen haben sich zusammengetan, Urlaube abgebrochen, eigenes Interesse zurückgesetzt. Auf diese persönliche Initiative sind die funktionierende Demokratie und die gute freiheitliche Ordnung angewiesen. Darauf gründet genauso, dass das „Impfversprechen“ vorzeitig zu halten war, bei allem, was nicht stimmte und fataler Fehler bleibt.

Den pauschalen Vorwurf des Versagens macht unbeirrt der, der den zukunftsgewendeten Wandel als Eliteprojekt verfolgt: der von einem Bewusstsein dafür im nur kleinen Kreis ausgeht, der „den anderen“ deshalb misstraut und in der Folge einen oft „moralischen“ Anspruch erhebt, den richtigen Weg allein zu kennen.

In den Schicksalen der Pandemie und des Hochwassers – und ebenfalls bei den Aufgaben der Integration oder der Verwirklichung nachhaltiger Lebensweise – haben sich aber keine „Eliten“ ausgezeichnet. Bewährt hat sich die menschliche Gemeinschaft und das Vertrauen ineinander: das Wahrnehmen von Verantwortung für sich selbst und für andere, für die Welt die uns umgibt und erhält.