Pandemie, Ratspräsidentschaft, Brexit - Europa an Wendepunkten

25.06.2020

Oliver Krauß zur aktuellen Situation in der Gemeinschaft. Landtag tagt wieder in Präsenz.

Der nordrhein-westfälische Landtag tagt nach den Pandemie-Beschränkungen in dieser Woche wieder mit Plenum. Am Donnerstag, 25.06.2020,  sind zu der Lage Nordrhein-Westfalens in Europa unter anderem zwei Anträge der Fraktionen von CDU und FDP auf der Tagesordnung, zu den Szenarien eines "Brexits" und zu der unmittelbar bevorstehenden "Ratspräsidentschaft" der Bundesrepublik, ab dem 01. Juli 2020: 

  • Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit – NRW setzt sich für freundschaftliche und enge Beziehungen zum Vereinigten Königreich ein - Drucksache 17/9824 (126 KB)
     
  • Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft aktiv mitgestalten und Nordrhein-Westfalens Prioritäten vertreten - Drucksache 17/9825 (86 KB)

Der europapolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion Oliver Krauß unterstreicht in seiner Parlamentsrede die zentrale Bedeutung des Zusammenhalts in Europa, um die existenziellen, schmerzlichen Betroffenheiten angesichts des Virus zu überwinden und - nach aller Möglichkeit - stark in die Zukunft zu kommen: 

"Es ist ein Grund zur Freude, über die Aufgaben in Europa wieder im Plenum zu diskutieren. Dort ist ihr Platz. Denn die gute europäische Lösung entscheidet unser Glück in der Zukunft."

Den gesamten Redebeitrag finden Sie hier (es gilt das gesprochene Wort):

70 Jahre hat der Europabezug der Landesverfassung gedauert, denn der „Verfassungsgeber konnte 1950 die bis heute erreichte Tiefe und Breite der europäischen Integration nicht vorhersehen“.

70 Tage ist es her, dass Ursula von der Leyen angekündigt hat: „Wir werden jeden verfügbaren Euro, den wir haben, auf jede erdenkliche Weise nutzen, um Leben zu retten und die Lebensgrundlagen der Europäerinnen und Europäer zu schützen.“

Die Pandemie ist bereits die dritte globale Krise des Jahrhunderts: nach der Weltfinanz- und der Flüchtlingskrise – mit Gefahr für Leben und Gesundheit, für die Wirtschaft, die Umwelt, die sozialen Ordnungen.

Gleichzeitig verlieren die multilateralen Organisationen in der Konfrontation der Mächte – die USA, China, Russland – Einfluss, der UN-Sicherheitsrat ist blockiert.

Die EU stand bereits vor Corona in geschichtlich schwierigster Situation. Durch den Brexit fallen in den nächsten sieben Jahren 60 Milliarden Euro weg. Die Gemeinschaft ist zwischen Ost und West gespalten: bei den Aufgaben der Migration, angesichts illiberaler Demokratien.

Die Pandemie ist Beschleuniger für das Gefälle von Nord nach Süd. Neue Staatsschuldenkrisen drohen.
Die prekären Lagen, mit denen die Menschen in Italien und Spanien seit Jahren kämpfen, sind dramatisch verschärft. Der Zusammenhalt Europas ist auf Solidarität verpflichtet.

Am 1. Juli beginnt die deutsche Ratspräsidentschaft in einer Konstellation von Konflikten, die einander überlagern und Nordrhein-Westfalen unmittelbar treffen. Die vier Anträge, die wir hier im Zusammenhang beraten, reagieren darauf: der Desintegration durch den Brexit begegnen, den Green Deal erfolgreich machen, die Ratspräsidentschaft in unserem Interesse mitgestalten.

Zentral für den Erfolg ist das Krisenmanagement, die Exit-Strategie, der Wiederaufbau. Das gilt für die gesamte Trio-Ratspräsidentschaft (Deutschland, Portugal und Slowenien, also bis Ende 2021, „Achtzehnmonatsprogramm“).

„Nur wenn die Gesundheitspolitik bei der wirksamen Eindämmung und schließlich bei der Überwindung der von COVID-19 ausgehenden Bedrohung erfolgreich ist, kann in allen anderen Bereichen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens eine dauerhafte Erholung erreicht werden.“

In dieser zugespitzten Situation hat die britische Regierung eine Verlängerung der Übergangsphase ausgeschlossen. Wir müssen damit rechnen, ein Abkommen zum 31. Oktober nicht zu haben – selbst bei einer Verhandlungsführung, die nur noch auf das „Allerdringendste und Notwendigste“ setzt: „null Zölle, null mengenmäßige Beschränkungen [.,] null Dumping, also keine Verzerrungen des gemeinsamen Spielfeldes auf britischer Seite durch staatliche Beihilfen oder Ähnliches“ (Dr. Jörg Wojahn, der Leiter der Vertreter der EU-Kommission in Deutschland, AEI am 10.01.2020).

Der neue Mehrjährige Finanzrahmen wird „Schlüsselinstrument“, um eine dauerhafte Erholung zu unterstützen: als angemessene Reaktion auf eine „klar umrissene, unverschuldete, außergewöhnliche Krisensituation“. Mit der Einbettung des „Paktes der Generationen“ geht es in diesen Tagen um 1,85 Billionen Euro.

Wenn der Mehrjährige Finanzrahmen nicht rechtzeitig geschafft wird, können wir am 1. Januar 2021 nicht mit allen Programmen beginnen. Dann haben Forschung und Studierende Haushaltsmittel nicht zur Verfügung, oder unsere Landwirtschaft, für die der neue Finanzrahmen Rückendeckung geben muss.

Für die Trio-Ratspräsidentschaft ist „übergeordnete Priorität“: „ein nachhaltiges und inklusives Wachstum“ zu fördern, „das […] den Übergang zu einer grünen Wirtschaft und den digitalen Wandel einschließt“. Es sollen „alle Lehren aus der Krise“ gezogen werden, mit der Bewältigung ihrer „sozioökonomischen Folgen“.

Die konkurrenzfähige Verbindung von Wirtschafts- und Klimapolitik ist hervorragendes Interesse in NRW, der seinerzeit größten europäischen Kohleregion. Der Green Deal ist Tempomacher für die Klimaneutralität. Er ist ebenso eine umfassende Wirtschaftsstrategie.

Ein Wiederaufbaufond in der Gemeinschaft bietet die Chance, Katalysator der Reform zu sein. Gelder daran zu binden, dass sie transformativ genutzt werden, ist gleichermaßen unser Interesse in NRW. Die Incentivierung der Wasserstoffwirtschaft – in Kooperation zum Beispiel mit den Niederlanden, über Binnengrenzen hinweg – ist Investition in Standort, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz.

Durch die Corona-Krise schätzen wir offene Grenzen neu. Die gelebte Solidarität in Europa schenkt viel Mut: mit der Aufnahme von Patienten aus den Nachbarländern und vor allem im zwischenmenschlichen Austausch. Diese konkrete Erfahrbarkeit, die „Solidarität der Tat“, muss die Zukunft anleiten.

Dazu ist wichtig, dass die EU-Förderprogramme für Nordrhein-Westfalen in der kommenden Finanzperiode attraktiv bleiben: in sozialer Verantwortung, mit starker Kulisse für Wettbewerb, Best Practice, Innovation.

Die „Solidarität der Tat“ baut ebenso Brücken, um die Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich bestmöglich fortzusetzen. Das geht unterhalb des Ringens um den guten „Deal“, den wir wollen: mit dem ausgewogenen Verhältnis von Rechten und Pflichten, mit der Gewährleistung von fairen Wettbewerbsbedingungen.

Am 12. Mai 2020 hat in der Enquetekommission Brexit die Anhörung stattgefunden: „Stärkung zivilgesellschaftlicher und institutioneller Kooperation […]“. Sie hat Perspektiven ausgeleuchtet, falls ein Deal nicht gelingt:

• für die Forschung, die ohne die internationale Vernetzung nicht funktioniert;
• über den Pfad der strategischen Partnerschaft;
• mit Best- oder Good Practice im Austausch der Hochschulen;
• mit Bündelung von Ressourcen für bewährte Transfers;
• mit gezieltem finanziellen Engagement, auch in der Situation belasteter Haushalte.

Ein bezeichnender Satz in der Anhörung war: „Zunächst geht es um die persönlichen Beziehungen, aus denen dann zum Teil Strukturen erwachsen.“

Politisch, wirtschaftlich und kulturell wollen wir diese persönlichen und institutionellen Verbindungen nutzen, an der Seite der Landesregierung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Grund zur Freude, über die Aufgaben in Europa wieder im Plenum zu diskutieren. Dort ist ihr Platz. Denn die gute europäische Lösung entscheidet unser Glück in der Zukunft. Ich bitte um Zustimmung zu unseren Anträgen."