„Und was macht Ihr dagegen?“

31.01.2023

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus in Swisttal und in Rheinbach. Es geht auch um uns - heute.

„Und was macht Ihr dagegen? Ihr habt es doch gewusst." Am 27. Januar 2023 haben die Gemeinde Swisttal und die Stadt Rheinbach der Mitmenschen gedacht, die Opfer der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland, ihrer Täterinnen und Täter, wurden: gedemütigt, gefoltert, in den Tod gehetzt.

Am jetzigen Freitag, dem 27. Januar 2023, jährte sich die Befreiung der Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau: vor 78 Jahren. Berge von Schuhen, Brillen und menschlichem Haar sind zurückgeblieben, als die Soldaten der Roten Armee die „Todesfabrik“ erreichen. 1,1 Millionen Mitmenschen wurden hier ermordet. Die Überlebenden sind am 27. Januar 1945 dem Tode nah, „wie Skelette“. Sechs Millionen Menschenleben insgesamt wurden in der Zeit der Shoah, der deutschen Katastrophe von 1933 bis 1945, zugrunde gerichtet.

Ein nie dagewesenes „Klima moralischer Enthemmtheit, in dem alles möglich war, weit jenseits der Grenzen dessen, was Wahn [...] früherer Jahrhunderte“ zumutete, weisen die Historiker nach: „quer durch alle Schichten“ (Joachim Fest). Die Sprach- und Fassungslosigkeit dauert bis heute: Die „Entschlossenheit [in Deutschland] und die Gefolgschaft einer großen Mehrheit zum Völkermord […] bleibt und bleibt ein Rätsel“ (Wolfgang Benz).

„Und, was macht Ihr dagegen? Ihr habt es doch gewusst." In Rheinbach fand das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar dieses Jahres wiederum im Foyer des Rathauses an der Schweigelstraße statt. In nächster Nähe erbaut war die Synagoge der jüdischen Gemeinde in der „rheinisch-katholische[n] Kleinstadt“, als die die Heimatforschung (Horst Mies) Rheinbach im Jahr 1933 geprägt sieht. Am 10. November 1938, in den „Novemberpogromen“, wurde die Synagoge in Brand gesteckt und zerstört.

„Und was macht Ihr dagegen?“ Diese aufrüttelnde Frage richteten Schülerinnen und Schüler im Rahmen der parteiübergreifenden Gedenkstunde an die größere Gemeinschaft, die am Mittag des 27. Januar 2023 zusammengekommen war, um den Opfern Demut und Ehre zu erweisen, in Gedanken und Gebet.

Im Jahr 1996 hatte der seinerzeitige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum wiederkehrenden „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ bestimmt. Als dem Jahrestag der Befreiung der Vernichtungslager Auschwitz/Birkenau: „Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss […] eine Form […] finden, die in die Zukunft wirkt.“

Die Initiative von Roman Herzog ist von der Stadt Rheinbach aufgenommen und in den Jahren fortgesetzt worden, in gemeinsamer Verantwortung mit der/dem jeweiligen Wahlkreisabgeordneten in der Landespolitik Nordrhein-Westfalens. Nachdem die Pandemie zuletzt nur eine Gedenkveranstaltung im kleinen Kreis zugelassen hatte, konnten der Rheinbacher Bürgermeister Ludger Banken und der Landtagsabgeordnete Oliver Krauß in diesem Jahr wieder um ein öffentliches Zusammenkommen bitten.

Denn nur Sprache kann gefährlichstes Dasein verscheuchen

Schülerinnen und Schüler der Rheinbacher Gesamtschule sowie des Städtischen Gymnasiums ließen Geschehen und Schicksal, Mord und Fassungslosigkeit immer näher kommen: in ergreifenden Beiträgen, in Wort und Klang. Oliver Krauß machte in seinem Redebeitrag die Schwierigkeit deutlich, einen Ausdruck für Brutalität zu finden, die nicht gesagt werden kann. „Wer diese Vernichtung nicht an sich selbst erfahren hat, weiß es nicht, wird es nie wissen. Er hat zu schweigen.“ Das sind Worte des Schriftstellers Hans Günther Adler, der selbst überlebte, dessen Ehefrau und dessen Familienmitglieder aber von den Deportationen nicht zurückkehrten. Krauß erinnerte an dieses Zeugnis und an das andere, dass aber dennoch gesprochen werden muss: Denn nur Sprache kann „gefährlichstes Dasein“ verscheuchen.

„Ihr habt es doch gewusst.“ Die Klage der Schülerinnen und Schüler weist zurück in die Jahre des Verbrechens und des konkreten Geschehens in Rheinbach. 36 Stolpersteine im Rheinbacher Stadtgebiet erinnern heute daran: „36 Menschenleben. Lebensjahre, die wir nicht zurückgeben können. Ungezählte mehr“, so Oliver Krauß. Horst Mies, Peter Mohr, Dietmar Pertz – andere sind zu nennen – haben NS-Geschichte in Rheinbach mit größter Sorgfalt auf- und sich an der Unfassbarkeit abgearbeitet.

Der Nationalsozialismus traf in Rheinbach, aber auch in Wormersdorf, in Oberdrees und im Umland „auf eine Bevölkerung, die weder von ihrer sozialen Zusammensetzung noch von der ideologischen Grundstruktur her ein leichtes Arbeitsfeld für die NSDAP bot“ – gestandene Persönlichkeit, mutiges Zeugnis und „weitgehend immun gegen NS-Anwandlungen“ (Horst Mies). Und doch wurden aus „lediglich" einem Dutzend skandierender NSDAP-Leute am 30. Januar 1933, dem Tag der „Machtergreifung“ vor 90 Jahren, in kurzer Folge „Fahnen überall“. Das seit dem Jahr 1945 verbotene „Horst Wessel-Lied“ auf Straßen und Plätzen. „Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger“, „Sittlichkeitsverbrecher“, „erbkranker Nachwuchs“: Die Entmenschlichung stoppte auch vor den Rheinbacher Ortschaften nicht. Deportationen. Mord. Oliver Krauß stellte einzelne Schicksale heraus: Wie den SPD-Politiker Hermann Klaber und seine Frau Clementine aus der Hauptstraße, mit einem kleinen Geschäft dort, Schreib- und Spielwaren: Nach Köln. Nach Łódź. Ins Ghetto. Im Mai 1942 werden die Eheleute qualvoll mit Autogasen erstickt.

Bürgermeister Ludger Banken und Oliver Krauß legten stellvertretend für alle in Rheinbach einen Blumenschmuck nieder. In Verneigung vor den Opfern: aus der jüdischen Gemeinde – „sie waren Nachbarn“ –, aus der Gemeinschaft der Sinti und Roma, der Andersdenkenden und Bekennenden, derer, die Menschenversuche erlitten, und derer, die in der Barbarei der NS-„Euthanasie“ getötet wurden. In Ergebenheit gegenüber allen, die Willkür und Krieg das Leben kosteten.

Am Vormittag des 27. Januar bereits war der Opfer in der Gemeinde Swisttal gedacht worden: mit Innehalten und Ehrbezeugung auf dem Jüdischen Friedhof in Heimerzheim, am Dornbuschweg. Dort nahm auch die ehemalige Landtagsabgeordnete Ilka von Boeselager teil, die die lebendige Erinnerungskultur in Swisttal und in Rheinbach besonders veranlasst hat. Ein besonderer Dank gilt hier den Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule Heimerzheim für ihre Beiträge.

„Und, was macht Ihr dagegen?“ Die Frage gilt dem Heute: Vorurteil, Ablehnung, Populismus, Hass, Verschwörungstheorie, Antisemitismus. Ein „Ihr habt es doch gewusst" bedeutet nicht ein „Lasst uns hören aus überwundener Zeit“. Darauf wiesen die Schülerinnen und Schüler in Rheinbach am Lichthof, der als Innenhof Mahnmale im Rathaus zeigt, ausdrucksstark hin. Jetzige Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind keine Selbstverständlichkeit. Oliver Krauß: „Zu dem gemeinsamen Erinnern gehört, neu zu schützen und zu sagen, was war: als in Deutschland Gesichter und Hoffnungen systematisch zerstört wurden, Stimmen, Liebe, Sorgen, Träume und Pulsschlag – ein immer ganzes Leben. Um jede und jeden aus der jungen Generation, die Zeitzeugen kaum noch befragen kann, geht es außerordentlich. Es darf nicht enden, immer neu wachsam zu sein.“